§ 17 BFSG: Was bedeutet die Ausnahme „unverhältnismäßige Belastung“?
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Autor: Dmitry Dugarev
Du hast sicher schon vom Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) gehört, das ab dem 28. Juni 2025 gilt [1]. Es stellt sicher, dass viele digitale Produkte und Dienstleistungen barrierefrei werden. Aber was ist, wenn die Umsetzung für Dich als Anbieter wirtschaftlich einfach nicht machbar ist?
Genau dafür gibt es Ausnahmeregelungen. Die wichtigste und am meisten diskutierte ist die "unverhältnismäßige Belastung" aus § 17 des Gesetzes [1]. Ich zeige Dir hier, was das genau bedeutet, wie Du prüfst, ob das auf Dich zutrifft, und welche Stolperfallen Du unbedingt vermeiden musst.
Was bedeutet "Unverhältnismäßige Belastung"?
Stell Dir vor, Du müsstest Dein gesamtes Geschäftsmodell über den Haufen werfen oder würdest durch die Kosten der Umstellung fast insolvent gehen. Genau hier setzt § 17 des BFSG [1] an:
Die Barrierefreiheitsanforderungen der nach § 3 Absatz 2 zu erlassenden Rechtsverordnung gelten nur insoweit, als deren Einhaltung nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung nach Anlage 4 des betreffenden Wirtschaftsakteurs führen würde. Der Wirtschaftsakteur nimmt eine entsprechende Beurteilung vor.
Wichtig ist das Wort "insoweit". Das ist kein Freifahrtschein, um das ganze Gesetz zu ignorieren. Es bedeutet, dass Du vielleicht 95% Deines Angebots barrierefrei machen musst, aber bei einem sehr speziellen, extrem teuer umzurüstenden Feature eine Ausnahme geltend machen könntest.
Der wichtige Unterschied: "Grundlegende Veränderung" vs. "Unverhältnismäßige Belastung"
Oft werden zwei Paragraphen verwechselt. Es ist aber super wichtig, den Unterschied zwischen "Grundlegender Veränderung" (§ 16) und "Unverhältnismäßiger Belastung" (§ 17) zu kennen.
- § 16 Grundlegende Veränderung
- § 17 Unverhältnismäßige Belastung
Hier geht es um die Natur Deines Produkts. Die Ausnahme greift, wenn die Barrierefreiheitsanforderungen eine "wesentliche Änderung" erfordern, die zu einer "grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale" des Produkts oder der Dienstleistung führt (laut § 16 Abs. 1 BFSG [1]).
Beispiel: Stell Dir vor, Du verkaufst ein rein analoges Messinstrument. Müsstest Du jetzt ein digitales Display und eine Sprachausgabe einbauen, würde das das Produkt in seinem Kern (seinem "Wesensmerkmal") grundlegend verändern.
Hier geht es rein um die Wirtschaftlichkeit. Die Natur des Produkts würde sich nicht ändern, aber die Kosten für die Umsetzung der Barrierefreiheit sind im Verhältnis zu Deiner wirtschaftlichen Situation einfach zu hoch (laut § 17 Abs. 1 BFSG [1]).
Beispiel: Du hast eine komplexe Software mit einer alten Codebasis. Die Umrüstung einer bestimmten Funktion würde zwar nichts am Wesen der Software ändern, aber sie würde 200.000 Euro kosten, während Dein Jahresumsatz nur 300.000 Euro beträgt. Das ist (potenziell) unverhältnismäßig.
Wir konzentrieren uns hier voll auf § 17, die wirtschaftliche Belastung. Einen detaillierten Guide zu § 16 findest Du hier.
Der Prozess: Wie beurteilst Du die Belastung?
Du kannst nicht einfach sagen: "Ist mir zu teuer." Das BFSG verlangt einen formalen Prozess wie bei § 16, der aus drei Schritten besteht.
Hier ist ein kleiner Entscheidungsbaum, der Dir den Prozess visualisiert:
Textbeschreibung für "Flussdiagramm: Prüfung auf Unverhältnismäßige
Belastung (§ 17 BFSG)" öffnen
Dieses Flussdiagramm beschreibt den formalen Prozess zur Prüfung, ob eine unverhältnismäßige Belastung nach § 17 BFSG vorliegt.
- Der Prozess beginnt bei "Start: Du prüfst § 17 (Unverhältn. Belastung)".
- Erste Entscheidung: "Bist Du ein Kleinstunternehmen, das Dienstleistungen anbietet?"
- Ja: Der Prozess führt zu "Du bist nach § 3 Abs. 1 BFSG ausgenommen. § 17 ist nicht relevant." (Ende, grün).
- Nein: Fahren Sie mit Schritt 3 fort.
- Zweite Entscheidung: "Hast Du Fördermittel speziell für Barrierefreiheit erhalten?"
- Ja: Der Prozess führt zu "Ausnahme nach § 17 Abs. 4 BFSG nicht möglich. Du musst umsetzen." (Ende, rot).
- Nein: Fahren Sie mit Schritt 4 fort.
- Aktion: "Führe die Beurteilung nach § 17 Abs. 1 i.V.m. Anlage 4 durch."
- Dritte Entscheidung: "Sind die Kosten für die Umsetzung der Barrierefreiheit im Vergleich zu Deinem Budget/Umsatz/Nutzen unverhältnismäßig?"
- Nein: Der Prozess führt zu "Keine Ausnahme. Du musst die Anforderungen umsetzen." (Ende, rot).
- Ja: Fahren Sie mit Schritt 6 fort.
- Aktion: "Dokumentiere die Beurteilung (§ 17 Abs. 2)."
- Vierte Entscheidung (nach der Dokumentation): "Bist Du ein Kleinstunternehmen (Produkte)?"
- Ja: Der Prozess führt zu "Pflichten erfüllt. Bei Anfrage Fakten vorlegen." und dann zu "Ausnahme (vorerst) rechtmäßig angewendet." (Ende, grün).
- Nein: Fahren Sie mit Schritt 8 fort.
- Aktion: "Informiere 'unverzüglich' die Marktüberwachungsbehörde (§ 17 Abs. 5)."
- Der Prozess endet bei "Ausnahme (vorerst) rechtmäßig angewendet." (Ende, grün).
Die Beurteilung (Anlage 4 ist Dein Kompass)
Du musst eine detaillierte Beurteilung vornehmen (laut § 17 Abs. 1 BFSG [1]). Dein Maßstab dafür ist Anlage 4 des BFSG [1]. Diese Anlage gibt Dir klare Kriterien vor, die Du prüfen musst.
Das sind die wichtigsten Kriterien aus Anlage 4:
- Verhältnis der Nettokosten zum Gesamtbudget: Wie hoch sind die Nettokosten der Barrierefreiheit (z.B. Personal, Schulung, Planung, Tests) im Verhältnis zu Deinen gesamten Betriebs- und Investitionsausgaben? (siehe Anlage 4 Nr. 1 BFSG [1])
- Verhältnis der Nettokosten zum Umsatz: Wie hoch sind die Nettokosten der Barrierefreiheit im Verhältnis zu Deinem Nettoumsatz? (siehe Anlage 4 Nr. 3 BFSG [1])
- Kosten-Nutzen-Abwägung: Hier wird es knifflig. Du musst die geschätzten Kosten und Vorteile für Dich (z.B. Investitionen) ins Verhältnis setzen zum geschätzten Nutzen für Menschen mit Behinderungen. Dabei musst Du auch berücksichtigen, wie oft das Produkt oder die Dienstleistung überhaupt genutzt wird (siehe Anlage 4 Nr. 2 BFSG [1]).
Die Dokumentation (Dein Schutzschild)
Wenn Deine Beurteilung ergibt, dass eine unverhältnismäßige Belastung vorliegt, musst Du diese Beurteilung unbedingt dokumentieren (laut § 17 Abs. 2 BFSG [1]).
- Was? Die gesamte Beurteilung, alle Kriterien aus Anlage 4, Deine Berechnungen und Deine schlüssige Entscheidung.
- Wie lange? Du musst diese Dokumentation fünf Jahre aufbewahren (gerechnet ab der letzten Bereitstellung des Produkts oder der letzten Erbringung der Dienstleistung).
- Für wen? Auf Verlangen musst Du diese Doku der Marktüberwachungsbehörde vorlegen (laut § 17 Abs. 2 BFSG [1]).
Die Meldung (Proaktiv sein)
Es reicht nicht, die Doku in der Schublade zu haben. Wenn Du Dich auf § 17 berufst, musst Du die zuständige Marktüberwachungsbehörde unverzüglich darüber informieren (laut § 17 Abs. 5 BFSG [1]).
In Deutschland ist diese ab dem 29. September 2025 die Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen [2]:
- Anschrift: MLBF, c/o Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Sachsen-Anhalt, Postfach 39 11 55, 39135 Magdeburg
- Telefon: +49 391 567 69700
- E-Mail: MLBF(at)ms.sachsen-anhalt.de
Ein Beispiel: Die "Muster-App GmbH"
Stell Dir die "Muster-App GmbH" vor. Sie ist ein KMU (kleines und mittleres Unternehmen, laut § 2 Nr. 18 BFSG [1]) mit 40 Mitarbeitern und 5 Mio. Euro Umsatz. Sie bietet eine App im elektronischen Geschäftsverkehr an (fällt unter § 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG [1]).
- Problem: Ein Feature der App ist ein 10 Jahre alter 3D-Viewer für Produktmodelle. Die Umrüstung dieses Viewers auf Barrierefreiheit (z.B. Screenreader-Tauglichkeit, Tastaturbedienung) wäre extrem aufwändig.
- Beurteilung (Schritt 1):
- Die GmbH holt Angebote ein. Die Nettokosten der Umrüstung belaufen sich auf 150.000 Euro.
- Das steht im Verhältnis zum Nettoumsatz von 5 Mio. Euro (3%) und den Gesamt-IT-Kosten von 800.000 Euro (ca. 19%). Das allein ist vielleicht noch nicht unverhältnismäßig.
- Aber (Kriterium Anlage 4 Nr. 2 [1]): Die GmbH prüft die Nutzung. Nur 1,5% aller Nutzer rufen den 3D-Viewer überhaupt auf. Der geschätzte Nutzen für Menschen mit Behinderungen im Verhältnis zu den enormen Kosten wird als sehr gering eingestuft.
- Ergebnis: Die GmbH entscheidet, dass für dieses eine Feature eine unverhältnismäßige Belastung vorliegt.
- Aktion (Schritt 2 & 3):
- Sie dokumentiert die Angebote, die Nutzungsstatistiken und die Abwägung nach Anlage 4 detailliert (laut § 17 Abs. 2 BFSG [1]).
- Sie informiert die zuständige Marktüberwachungsbehörde über die Inanspruchnahme von § 17 für den 3D-Viewer (laut § 17 Abs. 5 BFSG [1]).
- Ganz wichtig: Der Rest der App (Login, Shop, Bezahlprozess, Kontaktformulare) wird vollständig barrierefrei gemäß BFSG umgesetzt.
Hier ist noch mal eine Visualisierung des Beispiels:
Textbeschreibung für "Flussdiagramm: Beispiel Muster-App GmbH" öffnen
Dieses Flussdiagramm zeigt den Entscheidungsprozess der Muster-App GmbH hinsichtlich der Barrierefreiheit ihrer E-Commerce-App, die aus einem Kernbereich und einem 3D-Viewer besteht.
- Der Prozess beginnt bei "Start: Muster-App GmbH mit der E-Commerce-App".
- Aktion: "Kostenvoranschlag für Barrierefreiheit holen".
- Die App wird in zwei Bereiche geteilt: "Kern-App (Shop, Kasse)" (D) und "3D-Viewer" (E).
- Pfad Kern-App:
- Analyse der Kern-App (F): Nutzung ist sehr hoch (100 % der Nutzer, G); Kosten sind sehr gering (5.000 EUR, H).
- Ergebnis: "Unverhältnismäßige Belastung liegt nicht vor" (I, rot).
- Aktion: "Kern-App barrierefrei umsetzen" (J), führt zu "Konformität erreicht" (Z, grün).
- Pfad 3D-Viewer:
- Analyse des 3D-Viewers (K) nach Anlage 4: Kosten sind hoch (150.000 EUR, L); Nutzung ist sehr gering (1,5 % der Nutzer, M).
- Abwägung (N): Kosten vs. Nutzen führt zu "Unverhältnismäßige Belastung liegt vor" (O, grün).
- Aktion 1: "Dokumentation erstellen (§ 17 Abs. 2)" (P).
- Aktion 2: "Meldung an Behörde (§ 17 Abs. 5)" (Q).
- Ende: Der Prozess führt ebenfalls zu "Konformität erreicht" (Z, grün), da die Ausnahme für den spezifischen Teil rechtmäßig angewendet wurde.
Risiken bei Missbrauch: Was passiert, wenn's schiefgeht?
Dich "einfach so" auf § 17 zu berufen, ohne die saubere Beurteilung und Dokumentation, ist extrem riskant.
Die Marktüberwachungsbehörden (geregelt in § 20 ff. und § 28 ff. BFSG [1]) werden die Einhaltung des Gesetzes kontrollieren. Wenn Du Dich auf § 17 berufst, werden sie Deine Beurteilung prüfen (laut § 21 Abs. 3 BFSG für Produkte und § 28 Abs. 3 BFSG für Dienste [1]).
Stellen sie fest, dass Deine Berufung auf die Ausnahme nicht gerechtfertigt ist, gilt Dein Produkt oder Deine Dienstleistung als nicht konform.
Die Konsequenzen sind hart:
- Aufforderung zur Herstellung der Konformität: Du bekommst eine Frist, die Mängel zu beheben (laut § 22 Abs. 2 und § 29 Abs. 1 BFSG [1]).
- Maßnahmen bis zum Verbot: Wenn Du der Aufforderung nicht nachkommst, kann die Behörde die Bereitstellung Deiner Dienstleistung oder Deines Produkts einschränken, untersagen oder sogar einen Rückruf anordnen (laut § 22 Abs. 4 und § 29 Abs. 3 BFSG [1]).
- Bußgeld: Wer ein nicht konformes Produkt in den Verkehr bringt oder eine nicht konforme Dienstleistung erbringt, handelt ordnungswidrig (laut § 37 Abs. 1 Nr. 1 und 8 BFSG [1]). Dies kann mit einer Geldbuße von bis zu 100.000 Euro geahndet werden (laut § 37 Abs. 2 BFSG [1]).
Fazit
Die Ausnahme der "unverhältnismäßigen Belastung" nach § 17 BFSG ist ein wichtiges, aber scharfes Schwert. Sie ist kein Freifahrtschein, sondern ein klar definierter, formalisierter Prozess.
Denk immer daran:
- Es ist eine Ausnahme, nicht die Regel: Der Gesetzgeber will Barrierefreiheit.
- "Insoweit": Die Ausnahme gilt fast nie für Dein gesamtes Angebot, sondern nur für spezifische Teile, bei denen die Kosten-Nutzen-Rechnung (nach Anlage 4) offensichtlich kippt.
- Dokumentation ist alles: Ohne eine saubere, nachvollziehbare Beurteilung, die Du 5 Jahre aufbewahrst, riskierst Du bei einer Prüfung empfindliche Strafen.
- Sei proaktiv: Wenn Du kein Kleinstunternehmen bist, ist die Meldung an die Marktüberwachungsbehörde Pflicht.
Nutze diese Ausnahme mit Bedacht, sauber dokumentiert und nur dort, wo sie wirklich angebracht ist. Für den Großteil Deines Angebots sollte das Ziel immer die vollständige Konformität sein.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Muss ich die Beurteilung alle paar Jahre neu machen?
Ja, zumindest bei Dienstleistungen. § 17 Abs. 3 BFSG [1] legt fest, dass Dienstleistungserbringer ihre Beurteilung mindestens alle fünf Jahre wiederholen müssen. Du musst sie auch dann neu machen, wenn Du Deine Dienstleistung veränderst.
Was ist mit Kleinstunternehmen?
Nochmal zur Klarstellung:
- Dienstleistungen: Kleinstunternehmen sind laut § 3 Abs. 1 Satz 1 BFSG [1] komplett von den Barrierefreiheitspflichten ausgenommen. § 17 ist für sie nicht relevant.
- Produkte: Kleinstunternehmen müssen die Anforderungen erfüllen, können sich aber auch auf § 17 berufen. Sie haben erleichterte Pflichten: keine 5-Jahres-Dokumentationspflicht (aber Fakten auf Anfrage) und keine proaktive Meldepflicht bei der Behörde (laut § 17 Abs. 2 und 5 BFSG [1]).
Gilt die Ausnahme für mein ganzes Produkt?
Das ist sehr unwahrscheinlich. Das Gesetz sagt "insoweit" (laut § 17 Abs. 1 BFSG [1]). Das bedeutet, Du musst jeden Aspekt Deines Produkts oder Deiner Dienstleistung umsetzen, der nicht unverhältnismäßig ist. Eine pauschale Ausnahme für ein ganzes Online-Portal wird vor der Marktüberwachung kaum Bestand haben.
Haftungsausschluss
Dieser Artikel dient ausschließlich der Information und stellt keine Rechtsberatung dar. Die Anwendung des § 17 BFSG ist eine komplexe Einzelfallentscheidung. Ich übernehme keine Haftung für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der hier dargestellten Informationen. Bitte ziehe für Deine spezifische Situation unbedingt einen spezialisierten Anwalt hinzu.