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§ 16 BFSG: Was bedeutet die Ausnahme „grundlegende Veränderung“?

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Porträtfoto von Dmitry Dugarev

Autor: Dmitry Dugarev

Berater für digitale Barrierefreiheit & IT-Compliance

Zuletzt aktualisiert am:

Du hast sicher schon vom Barriere­frei­heits­stärkungs­gesetz (BFSG) gehört, das ab dem 28. Juni 2025 gilt [1]. Es stellt sicher, dass viele digitale Produkte und Dienstleistungen barrierefrei werden. Aber was ist, wenn die Umsetzung Dein Produkt in seinem Kern so verändern würde, dass es nicht mehr wiederzuerkennen ist?

Genau dafür gibt es Ausnahmeregelungen. Neben der "unverhältnismäßigen Belastung" (§ 17) gibt es den § 16 "Grundlegende Veränderung" [1]. Ich zeige Dir hier, was das genau bedeutet, wie Du prüfst, ob das auf Dich zutrifft, und welche Stolperfallen Du unbedingt vermeiden musst.

Was bedeutet "Grundlegende Veränderung"?

Stell Dir vor, Du müsstest Dein Produkt so umbauen, dass es seinen eigentlichen Zweck oder seine Kernidentität – sein "Wesensmerkmal" – verliert. Genau hier setzt § 16 des BFSG [1] an:

Die Barrierefreiheitsanforderungen der nach § 3 Absatz 2 zu erlassenden Rechtsverordnung gelten nur insoweit, als deren Einhaltung keine wesentliche Änderung eines Produkts oder einer Dienstleistung erfordert, die zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung führt. Der betreffende Wirtschaftsakteur nimmt eine Beurteilung vor, ob die Einhaltung... eine grundlegende Veränderung... mit sich bringen würde.

Wichtig ist auch hier das Wort "insoweit". Das ist kein Freifahrtschein. Selbst wenn Du ein Produkt hast, das unter die Ausnahme fällt (z.B. eine rein mechanische Uhr), muss Deine Website, über die Du sie verkaufst, trotzdem barrierefrei sein.

Der wichtige Unterschied: "Grundlegende Veränderung" vs. "Unverhältnismäßige Belastung"

Oft werden diese beiden Paragraphen verwechselt. Es ist aber super wichtig, den Unterschied zu kennen, denn die Beurteilungsgrundlage ist komplett anders.

Hier geht es um die Natur Deines Produkts. Die Ausnahme greift, wenn die Barrierefreiheitsanforderungen eine "wesentliche Änderung" erfordern, die zu einer "grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale" des Produkts oder der Dienstleistung führt (laut § 16 Abs. 1 BFSG [1]). Es geht nicht primär ums Geld, sondern um die Identität des Produkts.

Beispiel: Stell Dir vor, Du verkaufst ein rein analoges Messinstrument. Müsstest Du jetzt ein digitales Display und eine Sprachausgabe einbauen, würde das das Produkt in seinem Kern (seinem "Wesensmerkmal") grundlegend verändern.

Wir konzentrieren uns hier voll auf § 16, die Veränderung der Wesensmerkmale. Einen detaillierten Guide zu § 17 findest Du hier.

Der Prozess: Wie beurteilst Du die Veränderung?

Du kannst nicht einfach sagen: "Das ändert mein Produkt zu sehr." Das BFSG verlangt denselben formalen Prozess wie bei § 17, nur mit einer anderen Beurteilungsgrundlage.

Hier ist der Entscheidungsbaum für § 16:

Textbeschreibung für "Flussdiagramm: Prüfung auf Grundlegende Veränderung (§ 16 BFSG)" öffnen

Dieses Flussdiagramm beschreibt den formalen Prozess zur Prüfung, ob eine grundlegende Veränderung nach § 16 BFSG vorliegt.

  1. Der Prozess beginnt bei "Start: Du prüfst § 16 (Grundl. Veränderung)".
  2. Erste Entscheidung: "Bist Du ein Kleinstunternehmen, das Dienstleistungen anbietet?"
    • Ja: Der Prozess führt zu "Du bist nach § 3 Abs. 1 BFSG ausgenommen. § 16 ist nicht relevant." (Ende, grün).
    • Nein: Fahren Sie mit Schritt 3 fort.
  3. Aktion: "Führe die Beurteilung nach § 16 Abs. 1 durch."
  4. Zweite Entscheidung: "Führt die Umsetzung der Barrierefreiheit zu einer 'grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale'?"
    • Nein: Der Prozess führt zu "Keine Ausnahme. Du musst die Anforderungen umsetzen." (Ende, rot).
    • Ja: Fahren Sie mit Schritt 5 fort.
  5. Aktion: "Dokumentiere die Beurteilung (§ 16 Abs. 2)."
  6. Dritte Entscheidung (nach der Dokumentation): "Bist Du ein Kleinstunternehmen (Produkte)?"
    • Ja: Der Prozess führt zu "Pflichten erfüllt. Bei Anfrage Fakten vorlegen." und dann zu "Ausnahme (vorerst) rechtmäßig angewendet." (Ende, grün).
    • Nein: Fahren Sie mit Schritt 7 fort.
  7. Aktion: "Informiere 'unverzüglich' die Marktüberwachungsbehörde (§ 16 Abs. 3)."
  8. Der Prozess endet bei "Ausnahme (vorerst) rechtmäßig angewendet." (Ende, grün).

Die Beurteilung (Das "Wesensmerkmal")

Anders als bei § 17 gibt es hier keine Anlage 4 mit Finanzkriterien. Die Beurteilung ist konzeptionell und dadurch vielleicht sogar schwieriger. Du musst argumentieren, was die "Wesensmerkmale" Deines Produkts oder Deiner Dienstleistung sind.

Stell Dir die Frage: Was macht mein Produkt im Kern aus? Ist es die rein mechanische Funktionsweise? Ist es die rein visuelle Natur eines Kunstwerks? Ist es ein historisches Replikat?

Wenn die Barrierefreiheitsanforderungen (z.B. das Hinzufügen von Elektronik, Displays oder Sprachausgabe) diese Kernidentität zerstören und ein fundamental anderes Produkt schaffen würden, könnte § 16 greifen.

Die Dokumentation (Dein Schutzschild)

Wenn Deine Beurteilung ergibt, dass eine grundlegende Veränderung vorliegt, musst Du diese Beurteilung unbedingt dokumentieren (laut § 16 Abs. 2 BFSG [1]).

  • Was? Die gesamte Beurteilung, Deine Argumentation zu den Wesensmerkmalen und warum die Anforderungen diese grundlegend verändern würden.
  • Wie lange? Du musst diese Dokumentation fünf Jahre aufbewahren (gerechnet ab der letzten Bereitstellung des Produkts oder der letzten Erbringung der Dienstleistung).
  • Für wen? Auf Verlangen musst Du diese Doku der Marktüberwachungsbehörde vorlegen (laut § 16 Abs. 2 BFSG [1]).

Die Meldung (Proaktiv sein)

Es reicht nicht, die Doku in der Schublade zu haben. Wenn Du Dich auf § 16 berufst, musst Du die zuständige Marktüberwachungsbehörde unverzüglich darüber informieren (laut § 16 Abs. 3 BFSG [1]).

In Deutschland ist diese ab dem 29. September 2025 die Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen [2]:

Ein Beispiel: Die "Klassik-Uhren Manufaktur GmbH"

Stell Dir die "Klassik-Uhren Manufaktur GmbH" vor. Sie ist ein KMU und stellt hochwertige, rein mechanische Armbanduhren her. Sie verkauft diese auch über ihre eigene Website.

  • Problem: Barrierefreiheitsanforderungen könnten erfordern, dass die Uhrzeit auch nicht-visuell ausgegeben wird (z.B. Vibration, Sprachausgabe).
  • Beurteilung (Schritt 1):
    1. Die GmbH argumentiert, dass das "Wesensmerkmal" ihrer Produkte die rein mechanische, analoge und traditionelle Uhrmacherkunst ist.
    2. Das Hinzufügen von Elektronik, Batterien, Vibrationsmotoren oder Lautsprechern würde dieses Wesensmerkmal "grundlegend verändern". Das Produkt wäre keine "mechanische Analoguhr" mehr, sondern eine "Hybrid-Smartwatch".
  • Ergebnis: Die GmbH entscheidet, dass für das Produkt selbst eine grundlegende Veränderung vorliegt.
  • Aktion (Schritt 2 & 3):
    1. Sie dokumentiert diese Argumentation detailliert (laut § 16 Abs. 2 BFSG [1]).
    2. Sie informiert die zuständige Marktüberwachungsbehörde über die Inanspruchnahme von § 16 für die Uhren (laut § 16 Abs. 3 BFSG [1]).
    3. Ganz wichtig: Die Website der GmbH (E-Commerce-Dienstleistung, § 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG [1]) muss trotzdem vollständig barrierefrei sein! Die Ausnahme "insoweit" gilt nur für das Produkt.

Hier ist noch mal eine Visualisierung des Beispiels:

Textbeschreibung für "Flussdiagramm: Beispiel Klassik-Uhren Manufaktur GmbH" öffnen

Dieses Flussdiagramm zeigt den Entscheidungsprozess der Klassik-Uhren Manufaktur GmbH hinsichtlich der Prüfung auf grundlegende Veränderung nach § 16 BFSG für ihre rein mechanischen Analoguhren.

  1. Der Prozess beginnt bei "Start: Klassik-Uhren Manufaktur GmbH", die das "Produkt: Rein mechanische Analog-Uhr" (B) anbietet.
  2. Die Firma prüft die "Anforderung z.B.: Digitale Anzeige / Sprachausgabe" (C).
  3. Die erste Entscheidung ist: "Ändert dies das 'Wesensmerkmal'?" (D)
    • Nein: Der Pfad führt zu "Keine Ausnahme fürs Online-Shop. Umsetzung erforderlich." (J, rot).
    • Ja: Der Pfad führt weiter zu "Beurteilung: Produkt wird von 'analog/mechanisch' zu 'digital/hybrid'" (E).
  4. Ergebnis: "Grundlegende Veränderung liegt vor" (F, grün).
  5. Aktion 1: "Dokumentation (§ 16 Abs. 2)" (G).
  6. Aktion 2: "Meldung an Behörde (§ 16 Abs. 3)" (H).
  7. Ende: Der Status ist "Konform (mit Ausnahme für das Produkt)" (I, grün).

Risiken bei Missbrauch: Was passiert, wenn's schiefgeht?

Dich "einfach so" auf § 16 zu berufen, weil eine Änderung "irgendwie aufwändig" ist, ist extrem riskant.

Die Marktüberwachungsbehörden (geregelt in § 20 ff. und § 28 ff. BFSG [1]) werden die Einhaltung des Gesetzes kontrollieren. Wenn Du Dich auf § 16 berufst, werden sie Deine Beurteilung prüfen (laut § 21 Abs. 3 BFSG für Produkte und § 28 Abs. 3 BFSG für Dienste [1]).

Stellen sie fest, dass Deine Berufung auf die Ausnahme nicht gerechtfertigt ist (z.B. weil das Hinzufügen von Untertiteln zu einem Video Deiner Meinung nach das "Wesensmerkmal" ändert, was es definitiv nicht tut), gilt Dein Produkt oder Deine Dienstleistung als nicht konform.

Die Konsequenzen sind hart:

  1. Aufforderung zur Herstellung der Konformität: Du bekommst eine Frist, die Mängel zu beheben (laut § 22 Abs. 2 und § 29 Abs. 1 BFSG [1]).
  2. Maßnahmen bis zum Verbot: Wenn Du der Aufforderung nicht nachkommst, kann die Behörde die Bereitstellung Deiner Dienstleistung oder Deines Produkts einschränken, untersagen oder sogar einen Rückruf anordnen (laut § 22 Abs. 4 und § 29 Abs. 3 BFSG [1]).
  3. Bußgeld: Wer ein nicht konformes Produkt in den Verkehr bringt oder eine nicht konforme Dienstleistung erbringt, handelt ordnungswidrig (laut § 37 Abs. 1 Nr. 1 und 8 BFSG [1]). Dies kann mit einer Geldbuße von bis zu 100.000 Euro geahndet werden (laut § 37 Abs. 2 BFSG [1]).

Fazit

Die Ausnahme der "grundlegenden Veränderung" nach § 16 BFSG ist noch vager und konzeptioneller als die "unverhältnismäßige Belastung" aus § 17. Es geht nicht um Kosten, sondern um die wahre Identität Deines Angebots.

Denk immer daran:

  1. Fokus auf "Wesensmerkmale": Es geht um die Kernidentität, nicht um Aufwand oder Ästhetik. Die Hürde hierfür liegt sehr hoch.
  2. "Insoweit": Die Ausnahme gilt fast nie für Dein gesamtes Angebot (siehe Uhren-Beispiel: Die Uhr mag ausgenommen sein, die Website aber nicht).
  3. Dokumentation ist alles: Ohne eine saubere, nachvollziehbare Beurteilung, die Du 5 Jahre aufbewahrst, riskierst Du bei einer Prüfung empfindliche Strafen.
  4. Sei proaktiv: Wenn Du kein Kleinstunternehmen bist, ist die Meldung an die Marktüberwachungsbehörde Pflicht.

Nutze diese Ausnahme nur, wenn Du absolut sicher bist, dass Dein Produkt danach ein fundamental anderes wäre. Im Zweifel ist es keine grundlegende Veränderung.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Muss ich die Beurteilung alle paar Jahre neu machen?

Nein, das BFSG schreibt für § 16 (anders als für Dienstleistungen bei § 17 Abs. 3 [1]) keine automatische Wiederholung der Beurteilung vor. Es ist jedoch sehr ratsam, die Beurteilung zu erneuern, falls sich Dein Produkt oder die technologischen Möglichkeiten wesentlich ändern.

Was ist mit Kleinstunternehmen?

Nochmal zur Klarstellung:

  1. Dienstleistungen: Kleinstunternehmen sind laut § 3 Abs. 1 Satz 1 BFSG [1] komplett von den Barrierefreiheitspflichten ausgenommen. § 16 ist für sie nicht relevant.
  2. Produkte: Kleinstunternehmen müssen die Anforderungen erfüllen, können sich aber auch auf § 16 berufen. Sie haben erleichterte Pflichten: keine 5-Jahres-Dokumentationspflicht (aber Fakten auf Anfrage) und keine proaktive Meldepflicht bei der Behörde (laut § 16 Abs. 4 BFSG [1]).

Gilt die Ausnahme für mein ganzes Produkt?

Das ist sehr unwahrscheinlich. Das Gesetz sagt "insoweit" (laut § 16 Abs. 1 BFSG [1]). Das bedeutet, Du musst jeden Aspekt Deines Produkts oder Deiner Dienstleistung umsetzen, der nicht zu einer grundlegenden Veränderung führt.

Haftungsausschluss

Dieser Artikel dient ausschließlich der Information und stellt keine Rechtsberatung dar. Die Anwendung des § 16 BFSG ist eine komplexe Einzelfallentscheidung. Ich übernehme keine Haftung für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der hier dargestellten Informationen. Bitte ziehe für Deine spezifische Situation unbedingt einen spezialisierten Anwalt hinzu.

  1. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, „Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – BFSG)“. 2023. [Online]. Verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bfsg/
  2. Landesportal Sachsen-Anhalt, „Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen“. 2025. [Online]. Verfügbar unter: https://ms.sachsen-anhalt.de/themen/menschen-mit-behinderungen/aktuelles/marktueberwachungsstelle-der-laender-fuer-die-barrierefreiheit-von-produkten-und-dienstleistungen

Über den Autor

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Beste Grüße

Dmitry Dugarev

Gründer von Barrierenlos℠ und Entwickler des Semanticality™ Plugins. Mit einem Masterabschluss, über 8 Jahren Erfahrung in Web-Entwicklung & IT-Compliance bei Big-Four, Banken und Konzernen und mehr als 1.000 auf Barrierefreiheit geprüften Seiten für über 50 Kunden helfe ich Web-Teams, Barrierefreiheit planbar umzusetzen – ohne monatelange Umbauten.

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